Wie warm ist die Liebe?

Karen HartigLife & the City, Unterhaltung 1 Comments

rotes herz mit wäscheklammer an einer leine

Ja, wie warm ist sie, die Liebe? Vielleicht geht es Ihnen gerade wie mir: Nach den vielen schweren Themen der letzten Monate lese ich momentan am liebsten schöne, warme, liebevolle, zuversichtliche Texte … und deswegen habe ich heute eine Kurzgeschichte für Sie. Vor einer Weile bei Ullstein veröffentlicht, ist sie absolut zeitlos. Weil sie von Liebe handelt.  Vom Sommer. Von schönen, zuversichtlichen Gefühlen. Und von der Frage:

Wie warm ist die Liebe?

Wieviel Grad hat eine Gänsehaut? Was wiegt ein mittellanger Kuss? Wie hell ist ein heimlicher verliebter Blick? Fragen dieser Art kann kein Mann zufriedenstellend beantworten. Physiklehrer führen so unlogische Maßeinheiten wie „Lux“ ins Feld, was in diesem Zusammenhang unbedingt abzulehnen ist, nebenberufliche Poeten konstruieren pompöse, aber ihrer Komik wegen völlig unbrauchbare Allegorien, und der Durchschnittsmann nimmt die Blumen am gedanklichen Straßenrand gar nicht erst wahr, versagt also schon im Ansatz. Der Durchschnittsmann denkt geradeaus, weil man ihm das beigebracht hat.

Dachte ich.

Meine Meinung zu diesem Thema änderte ich erst an einem Juliabend des vergangenen Jahres. Zwei wunderbare sonnenwarme Wochen lang hatte ein Hoch namens „Bertram“ das Leben leicht und die Abende lang gemacht. Man räkelte sich auf Balkons und Parkwiesen, bevölkerte die Biergärten weit über die Sperrstunde hinaus, sommerliche Euphorie träumte sich bevorstehenden Urlaubstagen entgegen. Dann kam das Tief „Undine“ und regnete innerhalb einer Viertelstunde die Biergärten leer. Undines Marschgepäck enthielt nicht nur graue Wolkenberge, sondern auch kalte Luft. Nachschub besorgte sie sich unaufgefordert aus Island. Binnen einer Nacht fiel das Thermometer um fünfzehn Grad.

„Mir ist kalt“, sagte ich abends zu dem Goldschatz, mit dem ich verheiratet bin, und streckte ihm meine Füße entgegen, bevor ich diese in grobwollenen Norwegersocken verschwinden ließ.

„Frauen haben immer kalte Füße“, erwiderte mein Ehemann überlegen, „vor allem im Bett.“

„Nicht immer“, sagte ich, „nur bei einer Raumtemperatur von sechzehn Grad. Außerdem sind nicht nur meine Füße kalt. Ich gänsehäutele von oben bis unten.“

Er warf mir einen dieser mitleidsvollen Blicke zu, die für gewöhnlich invaliden Hunden vorbehalten sind, erhob sich und wanderte zum Thermometer. Versonnen betrachtete ich seine nackten Unterarme. Das weiße T-Shirt brachte die blonden Härchen auf seiner leicht gebräunten Haut vorzüglich zur Geltung.

„Erstens gibt es das Wort ‚gänsehäuteln’ nicht“, stellte mein Mann richtig, eine Bemerkung, die mir mal wieder schmerzlich ins Gedächtnis rief, dass es sich bei meinem Gatten wenn auch nicht um einen Durchschnittsmann, so doch um einen gewohnheitsmäßigen Geradeaus-Denker handelte, „du immer mit deinen Erfindungen! Zweitens sind es nicht sechzehn, sondern siebzehn Grad. Drittens hängt das Thermometer an einer Nordwand.“

„Und wenn es siebenundzwanzig Grad und eine marokkanische Südwestwand wären“, sagte ich geduldig und hüllte mich in eine Wolldecke, „kalt ist, wenn ich friere.“

„Ich friere aber nicht, also kann es nicht kalt sein.“

Ich schenke mir jeden Kommentar. Stattdessen bat ich meinen Goldschatz, die Heizungsanlage einzuschalten. Dieses Mal sah er mich an, als hätte ich jenen Zustand geistiger Umnachtung erreicht, den man gerne in Privatsanatorien eingesperrt hält.

„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Die Heizung anstellen? Hör mal, wir haben Juli! Außerdem ist der Öltank leer.“

Ich sagte nichts mehr. Nicht einmal mehr „ja, aber – “. Verpuppte mich in meinen Wolldeckenkokon und weigerte mich für den Rest des Abends, seine nackten Unterarme (die blonden Härchen lagen abstoßend entspannt darauf herum) zu betrachten. Im Bett behielt ich die Norwegersocken an, statt wie sonst meine kalten Füße in seinen Kniekehlen zu verstauen. Anderntags begab sich mein Goldschatz auf eine Dienstreise ins sonnige Potsdam. Undine und mich ließ er im Iglu zurück. Noch vor dem Frühstück suchte ich unseren Heizöllieferanten telefonisch davon zu überzeugen, das nur ein sofortiges Auffüllen unseres Tanks mich vor einer langwierigen Lungenentzündung bewahren könne, scheiterte aber an dem Umstand, dass ich bereits die elfte war, die mit pneumonischen Symptomen gedroht hatte. Morgen, ja, morgen ginge es, Aber heute? Ausgeschlossen.

An kreatives Schreiben war in Anbetracht des kalten Arbeitszimmers nicht zu denken. Ich flüchtete in die wohlig temperierten Buchhandlungen und Kaufhäuser der Innenstadt; den Nachmittag verbrachte ich beim Zahnarzt. Abends saß ich wieder unter meinem Deckenpaket und fror trotz einer zweilagigen Pulloverschicht. Das Thermometer zeigte fünfzehn Grad an. Nun, es handelte sich ja um eine Nordwand.

Mittlerweile dürfte klargeworden sein, dass ich zu jenen Leute gehören, die ungern frieren. Noch ungerner aber friere ich alleine. Die Aussicht, den Rest des Abends in einsamer Kältestarre verbringen zu müssen, schlug sich mir denn auch umgehend auf die Psyche. Gegen neun klingelte das Telefon. Unwillig schälte ich eine meiner Hände aus dem Wolldeckenpaket.

„Ich bin’s, dein Nachbar“, sagte eine vertraute Männerstimme, „was tust du so?“

„Ich tu frieren“, entgegnete ich, „und ihr?“

„Auch frieren, zumindest Sabine. Aber nicht mehr lange. Sie hat mich vorhin gezwungen, die Heizung anzustellen. Dauerte eine glatte halbe Stunde, bis alle Heizkörper entlüftet waren.“

„Wieviel Grad habt’n ihr?“ fragte ich sachlich und richtete mich auf.

„Etwa einundzwanzig, Tendenz steigend. Wieso?“

„Bin in einer Minute drüben“, sagte ich.

Nun verhält es sich so, dass meine Nachbarn keine gewöhnlichen Nachbarn sind. Sie zählen zur seltenen Spezies der Zeitgenossen, die man abends um elf noch mit dem Wunsch nach einer Handvoll Kaffeepulver überfallen darf. Taucht man nachmittags bei Sabine und Ulfi auf und hat an sich kein direktes Anliegen, sondern braucht nur mal ein bisschen Menschenwärme, weil einem der eben durchlittene Krach mit seinem Goldschatz im Magen liegt, so kocht Ulfi dem bekümmerten Gast einen Espresso, stellt einen Metaxa neben die Tasse und sagt: „Nu sei nicht so unwirsch und erzähl mal, wo dich der Schuh drückt.“ Den Metaxa erneuert er so oft, bis der Gast wieder wirsch ist.

Ulfi ist einer der wenigen Männer, deren Anblick in weißen Doppelripp-Unterhemden ich ertrage, ohne dass ich Druck auf den Pupillen bekomme. Ulfi darf mir ungestraft darüber Mitteilung machen, das ihm meine brandneue Jeans nicht gefällt. Ulfi hat es auch schon fertiggebracht, mir schonungslos ins Gesicht zu sagen, dass er sich nur unter äußerster Kraftanstrengung in mich verlieben können, und dann auch nur, wenn eine höhere Macht ihn dazu zwingen sollte. Ist mir recht so. Überanstrengen soll er sich nicht.

Seine Frau Sabine ist schlank und zurückhaltend und braucht gar nicht erst auszusprechen, ob ihr meine neue Jeans gefällt, weil ihr Blick es mir längst mitgeteilt hat. Man muss nicht immer alles in Worte fassen, schon gar nicht unter Frauen. An diesem Juliabend nun beneide ich Sabine ganz ernsthaft um Ulfi, weil dieser im Gegensatz zu meinem eigenen Ehemann rechtzeitig daran gedacht hat, Heizöl zu bunkern.

Im nachbarlichen Hausflur riecht es verschwommen nach Weihnachten. „Jetzt heize ich dir so richtig ein“, verspricht Ulfi strahlend, „wenn dein Kerl dich schon alleine frieren lässt!“

Ich gehe hinter ihm her ins Wohnzimmer und werde frontal von heißen Luftmassen mit Zimtaroma erschlagen. Gerate augenblicklich und rechtschaffen ins Schwitzen, werfe meinen Pullover von mir. „Grundgütiger, wieviel Grad sind das hier drin?“

Ulfi begibt sich zum Thermometer und krempelt sich die Hemdsärmel noch eine Etage höher, während er prüfende Blicke auf die Säule wirft. „Vierundzwanzig. Sabine, darf ich die Heizung wieder abstellen?“

„Untersteh dich“, kommt es auf der Sofaecke. Sabine trägt einen patentgestrickten schwarzen Rollkragenpullover und wärmt sich beide Hände an einem Henkelbecher. „Ich habe den Glühwein mit Amaretto verfeinert. Unglaublich, wie das belebt. Ulfi, hol’ ihr doch auch mal einen.“

„Glühwein?“ sage ich erschrocken. „Im Juli?“

„Na und? Kalt ist kalt.“

Keine drei Minuten später hält Ulfi mir ein Teeglas hin, aus welchem absurde Adventsstimmung dampft. Gedankenverloren betrachte ich seine nackten Unterarme mit den dunklen Härchen und nehme das Glas entgegen. Er setzt sich wieder, sieht mir aufmerksam zu, wie ich mir die Lippen verbrenne, reicht mir ein Taschentuch für den zweiten Schweißausbruch, steht wieder auf, bringt Kekse, bückt sich nach meinem Pullover, den ich bis vor dem Glühwein unter dem Pullover getragen habe, hängt ihn über eine Stuhllehne. Ulf schwitzt, weil er ständig in Bewegung ist. Ich schwitze, weil sich vierundzwanzig Grad Raumtemperatur in Verbindung mit einem Glas glühenden Glühweins außerordentlich derangierend auf meine innere Klimaanlage auswirken. „Caramba, mir kocht derrr Bluttt“, sage ich und entledige mich des Jeanshemdes, dass ich unter den Pullover unter dem Pullover getragen habe. Nun ist das Ende der bekleidungstechnischen Fahnenstange erreicht. Außer einem weißen Unterhemd meines Gatten habe ich obenherum nichts mehr auszuziehen.

Draußen dämmert es nicht sanft und rotgolden wie sonst, heute kommt die nasse Dunkelheit schlagartig. Sie verschluckt tiefgrüne Sommerbäume, pladdert gegen die Scheiben, ersäuft Grillen und gassirennende Hundebesitzer.

„Schöner Sommerabend eigentlich“, sagt Ulfi zufrieden.

Unauffällig schaue ich aufs Thermometer. Fünfundzwanzig Grad.

„Kinder, ich schwitz’ mich kaputt“, sage ich erschöpft vom Kampf gegen den Großbrand in mir, den der Glühwein entfacht hat, „können wir vielleicht die Heizung, ich meine – “

„Niemand wird den Heizungsgriff auch nur berühren“, warnt Sabine, „ich habe immer noch kalte Füße.“

„Bei der Affenhitze???“

„Frauen haben immer kalte Füße“, erläutert Ulfi, „besonders im Bett.“

„Außerdem hängt das Thermometer an einer Südwand“, sagt Sabine eigensinnig.

Ich für meinen Teil kann nicht mehr über kalte Füße klagen. Sie sind mittlerweile bien cuit, dampfen vor sich hin, befeuchten die Norwegersocken von innen. Unter meinen Armen dampft es auch. „Aber es sind fünfundzwanzig Grad!“

„Worüber beschwerst du dich?“ erkundigt sich Ulfi trocken. „Noch vor drei Tagen hast du in Shorts und einem beängstigend dünnen Flatterhemdchen in der Sonne gesessen und ‚ach ist das schön, endlich Sommer!’ geseufzt. Fünfundzwanzig Grad sind fünfundzwanzig Grad!“

„Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ sage ich gekränkt.

„Auf der Seite der Frierenden“, sagt Ulfi, „frierende Frauen haben immer recht.“

Jammerschade, dass mein eigener Goldschatz sich diese Erkenntnis noch nicht zu eigen gemacht hat. Ich frage Ulf, wie lange sie eigentlich schon verheiratet sind.

„Neunzehn Jahre“, sagt er und schickt Sabine so einen kleinen vertrauten Zwinkerblick, „in warmen und in kalten Zeiten. Willst du noch einen Glühwein?“

Das Thermometer zeigt sechsundzwanzig Grad.

Sabine hat sich zwischenzeitlich sehr entspannt zurückgelegt. Ihre Füße liegen auf Ulfis Oberschenkeln und bekommen die Ehemann-Spezialbehandlung, bei welcher es sich um eine wohldosierte Mischung aus rabiatem Kneten und sanfter Massage handelt. „Neunzehn Jahre, ganz schön lange Zeit, nicht wahr?“ sagt er. „Gott, was haben wir uns in den ersten Jahren gefetzt. Tagelang, nächtelang. Weißt du noch?“

Sie sieht ihn an und schweigt und lächelt. Ulfi blickt hoch. Lächelt auch. Die Raumtemperatur ist in diesem Moment nicht messbar. Plötzlich fühle ich mich ganz und gar überflüssig. „Also, ich geh’ dann mal.“

„Vergiss deine Eskimoausrüstung nicht“, grinst Ulfi, noch immer knetend, „zu Hause wärmt dich heute keiner mehr.“

Drüben betrete ich seidenweiche, angenehme Kühle, die mich zum ersten Mal seit zwei Tagen nicht erschaudern, sondern aufatmen lässt. Mehr als einen Pullover braucht man zum entspannten Herumsitzen wirklich nicht. Als ich den Fernseher anstellen will, um mir noch die Spätnachrichten anzusehen, läutet das Telefon.

„Na, wie geht’s“, sagt mein Ehemann sehr zärtlich aus der Einsamkeit seines Potsdamer Hotelzimmers heraus, „hier war in ganzen Tag Sonnenschein. Frierst du?“

„Nein“, sage ich und bewege wohlig meine Zehen in den mittlerweile getrockneten Norwegersocken, „überhaupt nicht. Sag mal, liebst du mich eigentlich noch?“

„Klar“, sagt er.

„Aber sie ist kalt, deine Liebe“, sage ich unglücklich und muss wieder an Ulfi und Sabine denken, „Heizöl bestellen tust du nicht und Füße kneten auch nicht. Ach, eiskalt ist deine Liebe.“

Ich höre ihn förmlich lächeln. „Nicht eiskalt. Heiß.“

„Ja?“

„Ja. Sehr heiß sogar.“

„Wie heiß?“ frage ich und hoffe jetzt auf etwas Tröstliches, auf etwas Konkretes in der Größenordnung ‚hundert Grad’.

„Heiß genug“, sagt er. „Heiß genug für ein ganzes Leben mit kalten Füßen.“

Verblüfft lege ich auf. Hätte ich gar nicht gedacht, dass mein geradeausdenkender Mann auf so hübsche Sachen kommen kann. Phantasie scheint doch abzufärben.

 

© Karen Hartig, erschienen in „Mücken, Hitze, Sonnenbrand“, Ullstein Verlag

Kommentare 1

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert