Ich muss verrückt sein. Wer sein erstes Blogpost ausgerechnet über Selbstliebe schreibt, kann nur verrückt sein. Ein Thema so gewaltig, dass es in den Buchhandlungen ganze Regalmeter füllt. Und googelt man „Selbstliebe“, bekommt man es mit 1.150.000 Einträgen zu tun.
„Hätten wir es nicht eine Nummer kleiner, so für den ersten Blogbeitrag?“, intervenierte folgerichtig eine Stimme in mir. Ja, hätten wir. Aber fast alles, was mit einem gutem Lebensgefühl zu tun hat, dockt gewissermaßen am Zentralgestirn „Selbstliebe“ an. Selbstliebe ist etwas Wunderbares – und gleichzeitig für viele Menschen schwer zu finden; nicht zuletzt der Film „Embrace“ zeigte dies kürzlich wieder. Und genau deswegen starte ich mit dieser Annäherung an ein XL-Thema.
Selbstliebe, was ist das eigentlich genau?
Konsultieren wir doch mal Wikipedia: „Selbstliebe, auch Eigenliebe, bezeichnet die allumfassende Annahme seiner selbst in Form einer uneingeschränkten Liebe zu sich selbst.“ In einem anderen Text finde ich: „Selbstliebe ist bedingungslos.“
Wissen Sie was? Ich bekomme Beklemmungen, wenn ich so etwas lese. Allumfassend, uneingeschränkt, bedingungslos – welch Wortkolosse, welch druckvoller Anspruch! „Uneingeschränkt“ bedeutet ja auch: Weniger als 100 Prozent reicht nicht, sonst ist es keine amtlich zugelassene Selbstliebe. Aber bittschön, wie soll ein Mensch sich einfach gut leiden, sich auf unkomplizierte Weise mögen, wenn schon die Schwelle zur Selbstliebe mit schwierigen Konditionen gespickt ist wie das Nagelbrett eines Fakirs?
In diesem Blogbeitrag möchte ich Sie also einladen, sich der bewussten Frage einmal von der lockeren Seite zu nähern. Denn manchmal sind es „nur“ Stolpersteine, die den Weg hin zu jenem warmen Gefühl blockieren oder schwerer machen, als er sein müsste.
Der Anfang: Im Jahr des bewegten Mannes
Meine eigene erste Begegnung mit der Selbstliebe verlief völlig unspektakulär. Es war 1994, das Jahr, in dem der „Bewegte Mann“ in die Kinos kam (aufgrund seines erfreulichen Körperbaus sah man Til Schweiger das Nuscheln damals noch nach). Zumindest in den Großstädten wandelte sich millimeterweise das Rollenverständnis von Mann und Frau. In jedem Stadtteil gab es Männer- und Frauengruppen, auch Selbsterfahrungsseminaren haftete kaum noch etwas Exotisches an.
Ich lebte damals nicht in einer Großstadt, sondern in einem westfälischen Dorf. Als einzige Frau besaß ich einen eigenen „Heimcomputer“ mit grandiosen 10 MB Speicher. Dann kam das Wochenende, an dem ich meinen alten Bekannten Harald wiedertraf. Überraschenderweise trug er eine körperferne asiatische Bindehose in dunkelrot. Und eben jener Harald, mit dem ich vor wenigen Monaten noch hochpolitisch diskutiert hatte, sagte nun bizarre Sätze zu mir: „Du, da musst du dich als Frau jetzt mal ein stückweit drauf einlassen, auch so emotional, ne? Hast du schon mal deine Selbstliebe hinterfragt?“
Selbstliebe? Keine Zeit!
Ich starrte ihn einigermaßen verwirrt an und überlegte, ein stückweit zu verschwinden. Selbstliebe? Keine Zeit. Meine Güte, ich rotierte 16 Stunden am Tag! Ich hatte vier Kinder und einen Beruf, konnte Windeln und Reifen wechseln, rettete zweimal in der Woche die Welt und schrieb an meinem ersten Roman, wann immer das Baby gerade schlief. Mich selbst fand ich ganz okay. Reichte doch! Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.
Mit dieser Begegnung hatte „Selbstliebe“ ihr Etikett weg: Ich legte den Begriff in der gleichen Schublade ab wie Selbstverwirklichung, dem Spottwort jener Zeit für unausgelastete Hausfrauen, die vormittags Seidenmalerei betrieben. Im Grunde sind wir uns damals gar nicht begegnet, die Selbstliebe und ich. Wir streiften uns nicht einmal. Eigentlich gingen wir geräuschlos aneinander vorbei.
Begegnung Nr.2: der Frontalcrash
Einige Jahre zogen ins Land. Scheidung, Umzüge, neuer Job, einstehen für die Kinder und mich selbst. Dann ereignete sich meine zweite Begegnung mit der Selbstliebe. Dieses Mal in Form eines Frontalcrashs. Ich verlagerte damals gerade mein Arbeitsgebiet auf medizinische und psychologische Themen. Eines Abends tauchte bei einer Recherche der Selbsttest eines psychologischen Instituts auf: „Lieben Sie sich selbst?“
Ah, da war es wieder, dieses sperrige Wort Selbstliebe! Aus beruflichen Gründen schien es sinnvoll, dem Ignoriermodus jetzt mal ein Ende zu setzen. Ich tat also wie geheißen und stellte mich vor einen Spiegel. Dort sollte ich mir liebevoll in die Augen sehen und lächelnd zu mir sagen: „Karen, ich liebe dich bedingungslos.“
Da stand ich nun im weißgefliesten Bad. Sah mir – durchaus bereitwillig – in die Augen. Und bekam einen Lachanfall.
Ich liebe dich bedingungslos? Bescheuert. Blödes Spiel.
Ich seh dir in die Augen, Kleines
Es gibt ja Menschen, denen geht „ich liebe dich“ ganz geschmeidig über die Lippen, und das mehrmals täglich. In meinem eigenen Leben aber ist ich liebe dich keine Äußerung für alle Tage und zudem dem Mann an meiner Seite vorbehalten. Und auch das nur in speziellen Momenten, nicht wenn er gerade die Pfandflaschen weggebracht hat.
Okay, das hatte ich vergeigt. Für solche Fälle bot der Autor des Tests noch eine sprachliche Hintertür an, nämlich: „Ich hab dich lieb“.
Also zweiter Versuch. Ich seh dir in die Augen, Kleines.
Und wissen Sie was? Ich scheiterte erneut.
Denn „ich hab dich lieb“, das war ja noch bescheuerter! Ich hab dich lieb, das sage ich zu meinen Kindern. Ich sage es gerne und oft, ob sie erwachsen sind oder nicht, und ich höre es auch gern aus ihrem Munde.
Zu einem Mann? Never.
Zu mir selbst? Danke, muss nicht, ich bin nicht mein Kind.
Wer sich blöd vorkommt, der kann’s halt nicht
Etwas belämmert kehrte ich zum Test zurück. Erwartungsgemäß fiel die psychologische Auswertung verheerend aus: Wer sich selbst liebt, der findet den Spiegeltest nicht blöd, sondern kann ohne weiteres das Verlangte aussprechen und fühlt sich auch noch gut dabei. Wer jedoch den magischen Satz nicht zu sagen vermag, wer sich dabei gar idiotisch vorkommt oder lachen muss, der liebt sich nicht selbst und hat noch einen laaaaaaangen Weg vor sich. Denn ohne Selbstliebe ist alles nichts.
Das Ganze baute heftigen Widerstand in mir auf. Jawohl, meine Füße waren zu groß und seit der ersten Schwangerschaft wohnte eine unverschwindbare kleine Speckrolle unter meinem Bauchnabel, aber ich fand mich okay. Warum reichte das nicht? Weshalb bestand man darauf, eine so absolute Formulierung aus mir herauszupressen?
Gleichzeitig rutschte mein Selbstbewusstsein in den Keller. Denn dass ich ein gestörtes Verhältnis zu mir selber hatte, war ja nunmehr erwiesen. Abhaken, dachte ich sauer, lasst mich einfach in Ruhe mit diesem Selbstliebezeug. Ich schaltete vom Ignoriermodus in den Alles-Quatsch-Modus.
Dritter Versuch: Selbstliebe reloaded
Wieder vergingen Jahre. Und Sie ahnen es vielleicht: Wo es zwei Begegnungen gab, ist auch Raum für eine dritte. Genau so kam es. An den genauen Anlass kann ich mich nicht mehr erinnern, doch war ich an diesem Tag ausgelassener Stimmung. Irgendwann ging ich kurz ins Bad, um mir die Hände zu waschen, sah mich im Spiegel an und sagte dann – ohne nachzudenken – ganz locker zu mir selber: „Na, du coole Socke?“
Es dauerte eine Weile, bis mein Gehirn Wind von der Sache bekam und erste schwerfällige Überlegungen anstellte. Und plötzlich stand dieser klare, große Aha-Gedanke im Raum: Welche Bedeutung konnte meiner zwanglosen Ansprache „Na, du coole Socke?“ zugeordnet werden, wenn nicht die von etwas eigenwillig formulierter Selbstliebe?
Eben. Und dann endlich begriff ich, dass es „nur“ um Sprache ging und immer nur gegangen war. Um die Begriffe. All die Jahre hatte ich mich rund um die ominöse Selbstliebe in fremden Vorgaben und Ansprüchen verheddert, die mit mir gar nichts zu tun hatten. Und was kann schon dabei herauskommen, wenn man zu sich selbst in einer Sprache sprechen soll, die einem völlig fremd ist?
Die Sprache der Selbstliebe ist persönlich
Ich ging sofort zurück ins Bad und begann zu experimentieren, allerdings mit einer neuen Versuchsanordnung: Weg mit der Strenge des Bedingungslosen. Weg mit den vorgegebenen Begriffen. Statt dessen lebensnahe, umgangssprachliche Konversation mit meinem Spiegelbild.
Bingo! Es waren ausgesprochen heitere Minuten. „Ich find dich gut“ ging mir so leicht von den Lippen, als bestellte ich eine Apfelschorle. Alles war freundlich und warm im Herzen, welche Erleichterung! Aber es liegt ja fast auf der Hand – schon die Sprache der Liebe zu einem anderen Menschen ist völlig individuell, warum sollte es bei der Selbstliebe anders sein?
Selbstliebe „nach Art des Hauses“
Falls Sie jetzt Lust haben, den Spiegeltest auszuprobieren: Vielleicht ist für Sie „ich liebe dich“ tatsächlich genau der richtige Satz mit der richtigen tragenden Bedeutung. Dann ist das wunderbar.
Vielleicht gehören Sie aber eher zu den Menschen, denen es schwerfällt, etwas Gutes, Freundliches über sich selbst zu sagen. Oder auch zu sich selbst. Dann erzählen Sie sich doch einfach mal etwas Ungewöhnliches! Finden Sie Ihre eigene, lebensnahe Sprache für sich selbst, damit Sie sich auch verstehen können. Und das kann alles zwischen einem zarten „ich mag dich“ und „ey, du bist super“ sein – Hauptsache, es ist freundlich und wohlwollend.
Wohlwollen ist Selbstliebe. Und wenn Sie sich dabei noch anlächeln können: passt.
Selbstliebe nach Art des Hauses: passt immer.
Übrigens, Übung hilft ungemein. Das Gehirn liebt Wiederholungen. Erzählen Sie sich also ruhig täglich, dass Sie sich mögen, das dauert keine zehn Sekunden. Es zu tun, ist das Entscheidende 🙂 Kleben Sie sich zur Erinnerung gern ein Post-it an den Spiegel. Oder die downloadbare Postkarte (rechts im Bild), die ich für Sie gestaltet habe.
In diesem Sinne: Sagen Sie sich doch gleich mal etwas Schönes!
Denn Selbstliebe darf einfach sein. Selbstliebe darf einfach – sein.
Herzliche Grüße
Ihre Karen Hartig
PS: Hinterlassen Sie mir gern einen Kommentar – und wenn Sie lieber per „du“ kommunizieren, nur zu 🙂
PS 2: „Ich seh dir in die Augen, Kleines“ – hier noch der Link zur ewigen Version.
Kommentare 12
Liebe Karen, ❤lichen Glückwunsch zu dem wunderschönen und erfrischenden, liebevollen Blogbeitrag
Danke, liebe Luzia, für deine Worte – „erfrischend“, das gefällt mir nicht nur bei diesen Temperaturen 🙂
Bis ganz bald, viele Grüße!
Was ich Dir zu dem Arikel sage: „I mog di“ – mit Tusch a LaBrassBanda. Funktioniert auch vor dem Spiegel! 🙂
Liebe Ruth, Tusch, wie wäre es mit einem labrassabandischen „Kiah Royal“ darauf, bei Gelegenheit? Ich freu mich und mog di aa 🙂
Ein herrlich beschwingt-leichter Text über ein Thema, das mich gerade auch sehr beschäftigt! In vielem habe ich mich selbst erkannt und kann nun sogar auch ein bisschen über mich lächeln, herzlichen Dank dafür! 🙂
Liebe Bärbel, deine Worte machen mich happy. So einfach ist das! Hab einen schönen Tag und viele Grüße!
Ein unterhaltsamer, warmherziger, liebevoller, prickelnd leichter und spritziger Artikel über ein Thema, dem in zahlreichen anderen Artikeln eine Schwere und ein Anspruch anhaftet, an dem zu scheitern regelmäßig eher zu Beklemmung denn zu mehr Selbstliebe führt.
Dies hier läßt sich sofort im Alltag ausprobieren, es läßt sich üben und ich fühle mich ermutigt, meine eigene Sprache dafür zu finden, dass ich mich okay finde. Klasse Und Karen…. für die Formulierung „unverschwindbare Speckrolle“ gibts eine dicke Umarmung Und ich freue mich jetzt schon auf viel mehr von Dir
Liebe Renate, welche Freude, das zu lesen! Ja, es ist so einfach, es sich schwer zu machen… und manchmal gibt es eben diese kleinen freundlichen Tricks, um mal eine andere „Ausfahrt“ zu nehmen. Über die „eigene“ Sprache im Umgang mit sich selbst folgt demnächst – natürlich! – noch eine Fortsetzung. Bis dahin, mit einer ebenso dicken Umarmung!
Du kompetente Frau für große und kleine Probleme (und deren L ö s u n g ) hab Dank für die Lektüre (die durchaus lang aber nicht langweilig war ;- )
„Wohlwollen ist Selbstliebe.“
Sehr treffend! Danke!
Auch ich habe mich jahrelang gefragt, was diese ominöse selbstliebe wohl sein sollte. Das ich mir aber wohlwollend begegne, kann ich spüren… kann ich üben… Effekt und Fortschritt genießen und / aber auch kritisch hinterfragen.
–
das war aber für mich irgendwie ein Stolperstein in diesem (Rede-)fluss dieses deines blogs:
„Und wenn Sie sich dabei noch anlächeln können: passt. Selbstliebe nach Art des Hauses: passt immer.“ – Nichts gegen Lächeln als Zeichen von Unangestrengtheit (Ja! Leben darf leicht sein! ;- ) aber: Passt es wirklich immer? Woran können wir (frühzeitig /sensibel) merken, dass wir uns vielleicht etwas vormachen?
Viele Grüße von Frau Kaboo
Liebe Frau Kaboo,
so vielen Dank für deinen Kommentar! Ja, das spürt man, wenn man sich wohlwollend begegnet, meine ich. Was du über den Stolperstein schreibst, ist sehr interessant. Mag sein, dass es nur eine sprachliche Nuance ist: ich hatte das „passt“ entliehen aus dem Wiener Sprachgebrauch, „passt schon“, im Sinne von: Es muss nicht perfekt sein. Passt schon, das heißt ja auch: Was da ist, genügt völlig. Weiterführen und ausbauen, das geht ja immer. Passt schon: gut ist gut genug. Dann geht sich das aus 🙂
Und ich meine, dass man auch das spürt, wenn man sich in der Frage etwas vormacht – der Bauch dürfte es dir erzählen, wenn es „gekünstelt“ ist und somit nicht echt.
Ganz herzlich und bis bald – Karen
Liebe Frau Hartig – aber ich darf ja Du sagen!
Eine interessante Perspektive auf das Thema und eine wünschenswerte Entwicklung vom Reifenwechseln zur Apfelschorle – und zur eigenen Sprachfindung! Man kann nur hoffen, dieser Harald hat Deinen Newsletter abonniert. Mich persönlich beeindruckt ja auch der Fakt, dass der Heimcomputer so viel Speicherkapazität hatte wie heute ein einfacher USB-Stick.
Bemerkenswerter Beitrag, der ein helles, warmes Fleckchen in der Herzgegend hinterlässt. Und beim nächsten Blick in den Spiegel garantiert ein Lächeln.
Nun, zum Abschied wage ich zu sagen (zu Dir, nicht zu mir): Ich hab Dich lieb.
Deine ältere Tochter
Welche Ehre, wenn die ältere Tochter vorbeigesurft kommt 🙂 Danke schön, und helle, warme Fleckchen in der Herzgegend hinterlasse ich besonders gern! Der „Heimcomputer“ damals war übrigens ein 486er XT von Vobis, und das Geräusch des dazugehörigen Nadeldruckers ging nicht nur durch Mark und Bein, sondern auch durch Kinderzimmertüren… wie gut, dass der Mensch vergisst. Ich hab dich lieb!